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„Darauf zu schauen, was vor unseren Augen liegt, bringt uns eventuell auch auf die rückwärtige Seite der Dinge“ – Interview mit Angelika Rainer

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Im Herbst wird Angelika Rainer der Otto Grünmandl-Literaturpreis verliehen, eine Auszeichnung, die das Land Tirol alle zwei Jahre als Würdigung für ein Gesamtwerk oder herausragende schriftstellerische Leistungen vergibt. Wir haben uns mit der Autorin und Instrumentalvirtuosin über die jüngste Auszeichnung, die Musikalität ihrer Werke und die Literatur als Erkenntnisweg und Mittel gegen Urängste unterhalten.

„Eine Behausung lässt sich auch mit Worten errichten“ schreibst du in deinem neuesten Buch „Zweckbau für Ziegen“. Schreiben wir alle in gewissem Sinn gegen die angsteinflößende, unbegrenzte Weite des Kosmos an?

Das Schreiben als eine Form die Welt wahrzunehmen und sich in ihr zurechtzufinden erfordert Aufmerksamkeit, ein gewisses Maß an Stille, Genauigkeit im Schauen und in der Sprache, in der Wahl der Worte. Je mehr man die Augen aufmacht umso mehr sieht man und umso vielfältiger und unbegreiflicher wird die Welt, das ist ein altes Lied.
Man hantelt sich an den Dingen, den Tatsachen, den Ereignissen entlang.
Ich staune, ich nehme zur Kenntnis, ich verbinde die Dinge, ich begreife die Welt also auf meine Weise, und es entsteht etwas Neues. Sich auf Details zu konzentrieren, Worte zu finden für etwas, was ohne Worte geschieht, das schafft Realität und Konkretheit.
Was einem begegnet und zufällt, wird intensiviert und was intensiv betrachtet ist, ist konkret und bindet an die Wirklichkeit. Und das wiederum ist sehr hilfreich, um sich nicht in Gedanken, in der Weite, in der Angst zu verlieren.

Schreiben ist also eine Form, sich in der Welt zurechtzufinden. Und darauf zu schauen, was vor den Augen uns liegt, bringt uns eventuell auch auf die rückwärtige Seite der Dinge.

Glaubst du, auch Leser*innen und Hörer*innen bauen sich Satz für Satz, Buch für Buch, Lied für Lied einen Schutzbau, um den Horror der furchteinflößenden Unendlichkeit zu bannen?

Lesen und Zuhören bedeutet, die Welt mit anderen Augen wahrzunehmen, zu erfahren, andere denken und fühlen ähnlich, sogar dasselbe wie ich, sie sorgen sich nachts ungefähr um das Gleiche. Also ist man in seiner Einzigartigkeit nicht ganz so einzigartig und deshalb mit den anderen verbunden, auch über die Angst hinaus.

Portrait: © Haymon Verlag / Julia Stix

Angelika Rainer wurde 1971 in Lienz/Osttirol geboren, heute lebt sie in Wien und ist neben ihrer Tätigkeit als Autorin auch Musikerin bei der Musicbanda Franui (franui.at). Mit „Luciferin“ war sie zum Europäischen Festival des Debütromans in Kiel eingeladen und erhielt die Autorenprämie des BMUKK. Außerdem bekam sie für ihre Arbeit das Große Literaturstipendium des Landes Tirol und das Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck. 2017 war sie Teilnehmerin bei „Poems in the City“ in Warschau. Bei Haymon erschienen „Luciferin“ (2008), „Odradek“ (2012) und „See’len“ (2018). Im August 2023 folgte mit „Zweckbau für Ziegen“ ein neuer Lyrikband der Autorin.

Zäune, Dächer, Schirme und Hecken – die Behaglichkeit und Schutz bietende Funktion von Begrenzungen ist offensichtlich nur ein Aspekt. Man könnte sagen, besonders kennzeichnend für deine Kunst ist auch, dass viele Zäune übertreten und Grenzen passiert werden. Ob als Teil der legendären Musicbanda Franui, einem musikalischen Umspannwerk und Gesamtkunstwerk zwischen den Genres, oder als Schriftstellerin, deren Inspirationen aus einer schier unglaublichen Vielfalt zu kommen scheinen. Gibt es besonders wichtige Bezugspunkte, die für deine schriftstellerische Laufbahn prägend waren?

Vieles verdanke ich Begegnungen, ich würde wahrscheinlich nicht mehr Musik machen, wenn wir uns nicht bei Franui getroffen hätten.

Auch für das Schreiben sind es wohl Begegnungen, die den Ausschlag gegeben haben, Begegnungen, in einem anderen Sinn, nämlich von mir als Leserin mit den Schriftsteller*innen.

Seit einigen Tagen ist bekannt, dass du mit dem Otto Grünmandl-Literaturpreis ausgezeichnet wirst. Mit dem Schriftsteller und Kabarettisten, zu dessen Ehren der Preis verliehen wird, gab es in der Vergangenheit ja immer wieder Berührungspunkte. Ist der Preis vielleicht auch deswegen eine besondere Auszeichnung für dich?

Ich habe den Otto Grünmandl durch die Arbeit am Tiroler Landestheater in den letzten Monaten besser kennen gelernt. Seine Art und Weise, die Welt zu betrachten, aufzunehmen, was er hört und sieht – vor allem was er hört –, das erschließt sich nicht sofort, aber wenn man länger damit zu tun hat, also durch die Wiederholung, entdeckt man die Feinheiten, Nuancen, man hört anderen und sich selber anders zu. Lyrik – und ich hoffe, auch meine Weise des Schreibens – ist ähnlich. Vieles erschließt sich nicht sofort, es arbeitet langsam, so wie Salz oder Wasser den Stein, eine Landschaft bearbeiten, irgendwann wird etwas durchlässig und dann begreift man und ist aufnahmefähiger als vorher. Je öfter man etwas macht, desto vertrauter wird es einem. Je öfter man Gedichte liest, desto mehr sagen sie einem etwas.

Es geht darum, diese Zeit, in der man etwas nicht versteht, auszuhalten, sich mit dem Bruchteil, den man einstweilen versteht, zufriedenzugeben, sich als Anfänger*in zu begreifen und zu verhalten, das Nichtwissen auszuhalten, einen Satz schön zu finden, ohne ihn gleich erfassen zu müssen. Irgendwann fügen sich die Dinge zu einem kleinen Ganzen und man hat sich mit der Welt vertrauter gemacht.

Liest man deine Texte laut, gewinnt man einen Eindruck von Rhythmus, Musikalität, Beziehungsreichtum, die ihnen innewohnen. Hast du beim Schreiben gewissermaßen eine Vertonung im Kopf? Läuft ein Stück im Hintergrund?

Wenn ich schreibe, ist es still. Ich brauche keine Musik während des Schreibens. Und sollte ein Stück im Hintergrund laufen, höre ich es nicht. Was beim Musikmachen  – und in einem Ensemble auf eine spezielle Art und Weise –  von Bedeutung ist, das ist das Zusammenspiel, der Zusammenklang, ein Gefühl für Pausen, für die Dauer von Nachklängen, der Mut, eine Stille zu unterbrechen, Pausen aufzuheben, etc.

Das alles ist auch in einem Text, in einem Gedicht relevant: Wann kommt was, wie ordnet man an, wie großzügig ist man im Weglassen, für welches Tempo, welche Dynamik entscheidet man sich, etc.

Otto Grünmandl-Literaturpreis – aus der Jurybegründung:

„In ihren vier Bänden, die zwischen Lyrik und Kurzprosa changieren, entwirft Angelika Rainer eine einzigartige und stilistisch unverkennbar souveräne Art des Schreibens und der Beobachtung. Sie schafft mit ihrer Lyrik dichte Poesie, aber auch Augenzwinkerndes, das ihren feinen Humor zeigt“

⇒ Zum Otto Grünmandl-Literaturpreis

Gibt es vielleicht Komponist*innen, die deinem einzigartigen literarischen Universum besonders nahestehen?

Hier eine Auswahl zu treffen ist wie eine Auswahl beim Streamen zu treffen; wenn ich etwas hören will, fällt mir nicht ein, was es jetzt sein soll, so als gäbe es nicht Milliarden Minuten von Musik zu hören sondern keinen einzigen Ton. Was ich aber sagen kann: Musik im Zusammenspiel mit Sprache wirkt immer sehr besonders auf mich. Ein Beispiel aus der Matthäuspassion, die ich vor kurzem wieder gehört habe:  Mit den Worten Erbarme dich, mit der damit verbundenen Erzählung, wird die Musik eine andere.

Woran arbeitest du aktuell?

Ich habe mehrere Vorhaben, für die ich zusammentrage und die mit der Zeit immer konkreter werden, wie man es von Polaroidbildern kennt. Es braucht Geduld und ein bisschen Dunkelheit, bis sich zeigt, was man gesehen hat.

Weiter fortgeschritten ist eine Arbeit, die mit der Überprüfung von Sätzen zu tun hat, eine Suche nach dem Second Sense of Sentences. Ich schaue, ob ein Satz standhalten kann, ob er Sinn macht, ob er alleine für sich und damit für den Kontext zu gebrauchen ist. Es ist auch eine handwerkliche Arbeit, ich verwende dafür eine Schreibmaschine, das ist eine vergnügliche Sache, und hält davon ab, sich zu verbeißen, weil man immer etwas zu tun hat.

Der Beitrag „Darauf zu schauen, was vor unseren Augen liegt, bringt uns eventuell auch auf die rückwärtige Seite der Dinge“ – Interview mit Angelika Rainer erschien zuerst auf Haymon Verlag.


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