Wir haben uns mit Raoul Eisele über sein Prosadebüt „Als Versprechen dieser Zeit“ unterhalten. Über das Verhältnis von Vergessen und Schreiben, über die vielen Versionen unseres Selbst, die wir alle in uns tragen. Darüber, wie man sich mit Worten an sein eigenes Ich heranschreiben kann, wie dieser Versuch zwangsläufig zugleich flüchtig und beständig ausfällt und uns unserem Selbst dennoch näherbringt:
Ist das Vergessen eine unumgängliche Bedingung, um lieben und leben zu können?
Ich glaube, nicht zwingenderweise das Vergessen, aber das Vergeben. Vergessen trägt etwas in sich, das der Mensch braucht, um einen Umgang mit gewissen familiären, gesellschaftlichen, aber auch weltweiten Problemen (oder auch generationalen Traumata) finden zu können. Wenn wir selbst aber ständig nach Perfektion streben und uns keine Fehler erlauben, ebenso keine Toleranz verspüren, wenn wir mal Fehler machen, dann werden wir vermutlich zu keiner tiefergehenden Beziehung fähig sein und jegliches Vertrauen in unser Gegenüber wird geschwächt.
Wir brauchen daher eine deutlich größere Akzeptanz (was das Vergessen bitte nicht inkludieren soll, aber ein Verständnis für vieles bringen könnte). Vergessen wäre dann nur noch von peripherer Bedeutung, weil wir als Individuen auch einen Umgang mit dem eigenen Fehler finden werden, wenn wir uns nicht ständig vorhalten müssen, etwas falsch gemacht zu haben. Oder dafür angeprangert werden und damit nicht mehr dem scheinbaren „Ideal“ entsprechen, das wir zwangsweise aufbauen bzw. durch gesellschaftliche Normen aufbauen müssen (Stichwort: „Selbstoptimierung“ und „Social Media“). Wenn wir aber gegenseitig auf Anerkennung treffen, selbst wenn wir mal in ein „Fettnäpfchen“ treten, denke ich, stärkt es unser Vertrauen, das uns dann wiederum zum Lieben und Leben verhilft.
Ist das Niederschreiben für dich Befreiung oder das Schaffen von unauslöschlichen Tatsachen?
Schreiben und Vergessen sind für mich persönlich nicht vereinbar und stehen im völligen Gegensatz zueinander; vielmehr hat das Schreiben für mich mit einem Weggehen und Wiederkehren zu tun, mit einem ständigen Prozess, der nie aufhört, ob man nun aktiv vor dem weißen Blatt Papier sitzt und schreibt oder nicht. Das Schreiben an sich hat, meiner Einsicht nach, je nach Person aber immer einen anderen Charakter, ob dieser nun befreiend ist, ein erstes oder wiederholtes Ordnen von Gedanken, ein Ausbruch an Emotion oder eben auch ein unauflösliches Festhalten von Tatsachen sein muss, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen.
Bei meinem eigenen Schreiben hat es in erster Linie einen befreienden Charakter, der wiederum nichts mit Vergessen zu tun hat. Es ist eher die Suche nach den richtigen Worten, um zu einer Klarheit zu gelangen, zu einer Unabhängigkeit, die hilft, alles in sich Tragende aus dem Körper zu bekommen und für sich und andere sichtbar zu machen. Es ist dann wie ein Versuch, sein eigenes Leben und seine Verhältnisse und Verhaltensweisen wiederholt zu hinterfragen, zu rekonstruieren und neue Sichtweisen bei sich und anderen kennenzulernen, wenn einem das Schreiben einmal entgleitet oder die Führung übernimmt; dabei ist es dann besonders überraschend, wo man hingelangt, wenn man einfach mal (wie im Fieber oder im Fluss) zu schreiben ansetzt und dann langsam wieder heraustritt. Es ist, wie wenn man einem Vogel die Hand entgegenhält und hofft, dass er landet; oder wie Hilde Domin schrieb: „Man muß den Atem anhalten, bis der Wind nachlässt, und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt.“
Es ist also manchmal unergründlich und dann wieder wie eine Notwendigkeit, der man nachkommen muss.
© Verena Gotthardt
Raoul Eisele ist Schriftsteller und veröffentlichte bisher Gedichtbände und Theaterstücke. 1991 in Eisenstadt geboren, lebt und arbeitet Eisele heute in Wien, wo er u. a. das Magazin process*in und die Veranstaltungsreihe Mondmeer und Marguérite gegründet hat. In seinem Schreiben fängt er die Einzigartigkeit und Komplexität des Menschseins ein. Jedes Gefühl wird zum Wort, bis sich die Grenzen von Anfang und Ende zu vermischen beginnen. „Als Versprechen dieser Zeit“ ist sein Prosadebüt und: eine Erkundung des eigenen Ichs.
Welche Funktion erfüllt das Schreiben für dich auf dieser Suche nach dem, was man ist oder zu sein glaubt?
Schreiben ermöglicht es einem, zu denken, sich vor sich selbst auszubreiten und auszusprechen, wofür man lange nicht die richtigen Worte fand. Schreiben ermöglicht es mir, zu einer Klarheit zu gelangen, Erkenntnisse zu gewinnen, eine Verlässlichkeit, die einem wiederholt die Frage vor Augen führt: Wer und wie möchte ich sein? In diesem Spannungsfeld drängen sich dann auch die Fragen auf: Wie sehen mich andere und wie möchte ich von anderen wahrgenommen werden (das „Ich“ im Schreiben ist für mich, und wie man heutzutage sieht, für viele nicht mehr auszuklammern). Schreiben lässt mich wachsen und wie Tove Ditlevsen sagte, hieße es „sich selbst auszuliefern“, dem Text gegenüber, sich selbst und seiner Vergangenheit und im Weiteren dann auch den Leser*innen. Es ist ein ständiges Wechselspiel und ein Dialog, den wir eingehen im Schreiben oder wie Frieda Paris in ihrem Buch „Nachwasser“ schreibt: „Ohne Gegenüber atmet das Gedicht nicht“ und was könnte schlimmer sein, als wenn einem die Luft wegbliebe.
Die Makellosigkeit ist ein wiederkehrendes Motiv in deinem Buch: „Nicht ein Fleck, nicht eine Schramme“. Können wir erst beginnen, unser Ich zu konstruieren, wenn wir nicht mehr damit beschäftigt sind, unsere Unbeflecktheit zu bewahren?
Wir konstruieren ständig neue „Ichs” bzw. Selbstverständnisse, die uns betreffen oder wie es im Buch heißt: „there have been so many versions of us over the years“. Heute bin ich anders, als ich es gestern war und morgen oder in ferner Zukunft sein werde. Was nicht bedeutet, dass das jetzige Ich keinen Wert hat, weil es ohnehin der ständigen Veränderung ausgesetzt ist. Es hat Bestand und sollte in seiner aktuellen „Schönheit“ gesehen werden dürfen; ebenso wie jeder Text auch in seiner Momenthaftigkeit seine Berechtigung und Wahrheit innehat; und sicher auch noch zukünftig haben wird und sei es nur für unser eigenes Schreiben. Denn alles entwickelt sich weiter und so muss das Schreiben auch im ständigen Prozess bleiben (oder wie Octavio Paz sagte: „Jedes Gedicht ist der Entwurf eines anderen, das wir niemals schreiben werden.“).
Und so ist die Makellosigkeit auch ein unmöglich zu erreichender Zustand, den wir zwar, da katholisch-christlich geprägt, erhoffen und erschaffen wollen, gleichzeitig aber unerreichbar bleiben muss. Und so sollten wir auch uns gegenüber mehr Akzeptanz zulassen und uns für die Eigenschaften liebgewinnen, die uns ausmachen und nicht versuchen, eine „Unbeflecktheit“ zu erreichen oder zu bewahren, die es so nicht gibt.
Raoul Eisele erzählt in seinem Prosadebüt „Als Versprechen dieser Zeit“ von den Kämpfen, die wir in uns austragen, von der Ruhe, die wir fürchten, könnte sie doch Einsamkeit bedeuteten. Und: Er erzählt von Geborgenheit, die der schützende Arm sein kann, der sich um uns legt. Geborgenheit: die das Dasein erträglich macht.
„Als Versprechen dieser Zeit“ kann man auch als tastende Suchbewegung, Ausloten von Widersprüchlichkeiten lesen. Gibt es im Leben trotz allem unverrückbare Gewissheiten für dich?
Am unverrückbarsten sind mit Sicherheit Freundschaften, die seit Jahren/Jahrzehnten bestehen, bei denen man weiß, dass man sie selbst bei 1-2 Jahren Abstand nicht verliert. Natürlich auch die Familie, der engste Kreis an mir nahen Menschen, auf die man sich in jeder Lebenslage verlassen kann. Und natürlich das Vertrauen in die Liebe und in den bestehenden Respekt, den man vor Menschen und allen Lebewesen haben sollte (aber hierbei bin ich auch einfach unverbesserlich optimistisch).
Neben dem nuancierten Ausloten von Ambivalenzen kommt eine Kritik in deinem Buch sehr klar heraus: sie gilt übergestülpten Erwartungen, einengenden Rollenbildern, aufgezwungenen Gesellschaftsnormen. Sind sie für dich das größte Hindernis für ein selbstbestimmtes, freies Leben?
Ich glaube, dass man immer schon versucht hat, gegen herrschende Normen zu rebellieren. Oftmals hat man sich aber dann doch in die Gesellschaft eingegliedert und ist einen ähnlichen Weg gegangen, wie man ihn vorgelebt bekommen hat. Denn es ist schwierig, sich von den gesellschaftlichen Prägungen und familiären Verhältnissen völlig loszusagen oder sich aus ihnen herauszulösen. Denken wir nur, wie schwer es uns fällt, Angelerntes wieder zu verlernen. Trotzdem denke ich, dass es nötig ist, die herrschenden Verhältnisse in der Welt (im Kleinen, ebenso wie im Großen) ständig zu hinterfragen und bei Veränderungen mitzugehen, die ein Allgemeinwohl für alle zu schaffen versuchen.
Ist „Als Versprechen dieser Zeit“ ein Versuch, unseren Glauben an essenzielle, ungebrochene Wahrheiten, behauptete Tatsachen und Zuschreibungen zu erschüttern?
Mein Schreiben bleibt ausschließlich ein Herantasten an das eigene Erlebte, ein Versuch, mich im Verhältnis zu anderen zu hinterfragen. Wenn es mir damit gelingen sollte, etwas gesellschaftlich Relevantes oder Allgemeines zu schaffen, ist es vermutlich ein glücklicher Zufall und wenn es in diesem auch noch zu einer Erschütterung kommt, umso schöner, aber auch unrealistischer – aber ich denke, dass es in erster Linie unbedingt diesen Versuch braucht, der bei sich und seinem nahen Umfeld anfängt und dann mit viel Bedacht auch an weitreichende und allgemeinere Probleme herantreten kann.
Die Uneindeutigkeit spiegelt sich auch in der lustvoll genresprengenden Form deiner Erzählung wider. Englischsprachige Einschübe, Songbooks, literarische, popkulturelle und wissenschaftliche Bezüge, Whatsappnachrichten – in „Als Versprechen dieser Zeit“ findet man eine erstaunliche Fülle des Ausdrucks. – Oder vielleicht auch: Die neuronale Überreizung unserer Zeit, die Kakophonie der Notifications, das gleichzeitige Gewimmel unterschiedlichster Kommunikationsformen. Ist diese aufregende, beziehungsreiche, nichtlineare Form ein Ausdruck unserer Zeit?
Wir suchen verstärkt im eigenen Umfeld, um aus den eigenen Erfahrungen heraus zu schreiben, da es immer wichtig wird, zu hinterfragen, wer spricht und welche Probleme von welcher Position/Sichtweise/Ausgangslage aufgegriffen und verhandelt werden.
Gleichzeitig fügt es sich in die Suche nach einer neuen Erzählweise ein; und in den Versuch, einen Umgang mit unserer Zeit zu finden, mit der ständigen Veränderung und der Frage nach Wertigkeiten und (Schreib-)Prozessen, die den eigenen Erfahrungsschatz offenbaren und zeigen. Die Suche wirft Fragen auf, wie: Woraus schöpfe ich? Mit welchem Wissensstand nähere ich mich einem Thema an? Welches Archiv steckt hinter meinem Schreiben & Denken oder dem des „Lyrischen Ich“, das spricht? Und was bewegt die Autor:innen, die das Erzählen wagen?
Wichtig ist es mir, festzuhalten, dass es einen Neubeginn braucht und ich denke, dass das immer schon die Aufgabe von Kunst war, Wege aufzuzeigen und nach Möglichkeiten zu suchen, die dann von anderen ebenfalls gegangen werden können.
Ob das gelingt, ist aber wie so oft in der Historie, sicherlich vermehrt dem Zufall geschuldet, als irgendetwas anderem.
Der Beitrag „There have been so many versions of us over the years“ – Interview mit Raoul Eisele über sein Prosadebüt erschien zuerst auf Haymon Verlag.