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„Manchmal sind wir die Müllabfuhr des Internets.“ Ein Interview mit der Content-Managerin Hannah Schlüter

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In „Unfollow Stella“ von Ellen Dunne muss Kriminalhauptkommissarin Patsy Logan tief in die Schattenseiten der Sozialen Medien eintauchen. Was User*innen und Follower*innen oft nicht sehen, ist Alltag derer, die täglich in die tiefsten Abgründe schauen, um andere vor ihnen zu schützen: Content-Moderator*innen. Hannah Schlüter ist eine von ihnen. 

 

Wie bist du Content-Moderatorin geworden und wie lange bist du schon in dieser Sparte tätig?

Ich bin seit 15 Monaten im Community Management für News tätig. Ich habe Soziologie und im Master Gesellschaftstheorie in Hamburg und Jena studiert, und journalistische Arbeitserfahrung bei Extra3, fluter und freiberuflich schreibend für den Freitag und Missy Magazine gesammelt. Ich war nach dem Studium erst mal freiberuflich unterwegs, habe einen Dokumentarfilm produziert und ein Theaterstück über den Klimawandel geschrieben, für das ich weiter in Regie und Produktion arbeite. Um in schlecht bezahlten künstlerischen Projekten autonom und entspannt zu bleiben, habe ich gemerkt, dass ein Teilzeitjob für mich eine notwendige und gute Ergänzung ist. Das Community Management hat mich aus mehreren Gründen interessiert. Erst mal ist es natürlich so, dass in der Kommentarspalte ziemlich ungefiltert die Meinungen von verschiedenen Menschen zu lesen sind – das ist politisch spannend. Mich hat es gereizt, mit den User*innen kommunizieren zu können – ich finde immer noch, dass der Erfahrungsaustausch, der auf unsere Fragen hin unter Beiträgen manchmal stattfindet, etwas sehr Wertvolles, Schönes und Empathie Förderndes ist – wenn es eben zu diesem respektvollen Austausch kommt.

 

Was würdest du sagen, inwiefern sich die Kommentare und deine Arbeit verändert haben, seit du diese Tätigkeit ausübst? Was sind die größten Herausforderungen für dich?

Als ich im Mai 2022 mit der Arbeit begonnen habe, haben mich vor allem die oft entgleisenden Kommentare zum Krieg in der Ukraine und die Corona-Debatte erschlagen. Da es hier detailreich zugeht und es oft viele medizinische und historische Debatten gibt, habe ich mich ziemlich unwissend gefühlt. Zum Glück war meine Aufgabe hier nicht, alles in Gänze nachzuvollziehen oder Fakten zu checken, sondern zu schauen, wo gegen die Netiquette verstoßen wird oder strafrechtlich Relevantes weiterzuleiten ist wie bspw. Drohungen gegen Karl Lauterbach.

Besonders auffällig finde ich nach wie vor die Häufigkeit, in der Kommentierende die Menschen, die sie ablehnen, pathologisieren und behaupten, diese seien psychisch krank und müssten „in die Psychiatrie“ und „weggesperrt“ werden. Wenn die wütenden Menschen aus den Kommentarspalten politische Entscheidungsgewalt hätten, wären die Gefängnisse und Psychiatrien voll von Politiker*innen.

Die beiden Themen sind noch da, aber deutlich abgeflaut in der Härte und Aggression, in der diesbezüglich kommentiert wird. Als Jina Amini vergangenes Jahr starb, erreichten uns über Wochen und Monate viele Direktnachrichten und Bitten um Berichterstattung. Auf Kommentarebene war es angenehm, die große Solidarität zu erleben. Es ist absurd, dass es dieses Jahr bisher ein bisschen ruhiger wirkt, obwohl wir durch die Klimakrise ja in einer Zeit wachsender Katastrophen leben – aus der Warte von Desinformation und Fake News war es allerdings aufwendiger, mit dem Angriff auf die Ukraine und Corona umzugehen als mit Klimawandelleugnung, die gefühlt etwas weniger präsent ist mittlerweile, auch wenn da einige echt hartnäckig bleiben. In allen Bereichen gibt es zum Glück Engagierte, die informierende Gegenrede leisten und Falschbehauptungen richtigstellen. Die größte Herausforderung ist für mich, der Negativität im Job einen ausgleichenden, sozialen und ausgeschlafenen Alltag entgegenzusetzen, der mir so guttut, dass er den größtmöglichen Kontrast zu den Gewaltfantasien und der Destruktivität darstellt, die ich lesen muss. Ich entscheide genau, mit welchen Themen ich mich zwischenmenschlich und medial in meiner Freizeit und freiberuflich befassen will und kann. So funktioniert es meistens, sich vom Zynismus und der Verbitterung abzugrenzen, die online herrscht. Gut auf mich selbst zu achten, ist durch Schichtarbeit, Früh-, Spät und Wochenendschichten eine Sache, die nicht immer leicht ist, denn manchmal brauche ich mehrere Dinge: Ruhe und Zeit mit meinen Freund*innen oder Sport. Dann muss ich halt entscheiden und irgendwas kommt zu kurz. Mittlerweile bin ich manchmal neidisch auf 9 to 5 und sehne mich nach einem festen, immer gleichen Arbeitsrhythmus.

 

Wie sieht dein Arbeitsalltag aus – und welche Art von grenzüberschreitenden Kommentaren begegnet dir bei deiner Arbeit am häufigsten?

Je nach Uhrzeit der Schicht und zu betreuendem sozialen Netzwerk, also YouTube, Facebook oder Instagram, sehen unsere Schichten etwas unterschiedlich aus. Gleich ist immer, dass wir bei neu erscheinenden Beiträgen unmittelbar alle Kommentare monitoren und Eingangskommentare mit mehr Infos zum Beitragsthema oder einer Frage an die User*innen setzen. Kommentare, die gegen die Netiquette verstoßen, werden gelöscht, bei starken Verstößen werden die Verfasser*innen verwarnt. Sperrungen erfolgen nach mehreren Verwarnungen. Am häufigsten gibt es, würde ich sagen, rassistische Kommentare. Und sonst alle -ismen durch. Wer vor dem Job noch nicht weiß, was für Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit es gibt, weiß es nach zwei Wochen im CM. Die heftigsten Kommentare sind Morddrohungen und -aufforderungen, Todes- und Gewaltwünsche und Suizidankündigungen. So Leute, die von Selbstjustiz und Todesstrafe fantasieren sind auch arg.

 

Warum glaubst du, schreiben Menschen unangebrachte Kommentare? Welche Intention steckt dahinter?

Ich denke, besonders gut kann es den Menschen, die bei uns hasserfüllt kommentieren, nicht gehen – also sofern sie Privatpersonen sind und nicht politisch motivierte und organisierte Accounts, die bewusst Narrative pushen, indem sie immer dieselben Kommentare posten. Das lese ich viel, so lässt sich wunderbar Stimmung machen. Die Kommentarspalte sehe ich als Kanal für die, die Dampf ablassen müssen und scheinbar nicht wissen, wo sie das analog machen können. Manchmal sind wir da wie die Müllabfuhr des Internets. Mit wenig Material zum Recyceln. Von den Kommentatoren wurden wir auch schonmal „Löschknechte“ getauft, was ich extrem witzig finde. „Meldemuschi“ gab‘s auch schon. Manchmal ist die Kommentarspalte auch ein Kotzbecken, so viele Kotzemojis wie hier gibt’s sonst nirgendwo. Die Intentionen der Kommentierenden sind ganz verschiedene: politische Stimmungsmache oder Aggressionen rauslassen. Dann gibt’s Leute, die Lust haben zu provozieren und rum zu trollen. Und dann eben solche, zum Glück, die Interesse am Austausch mit anderen haben, sich für andere Meinungen interessieren und bereit sind, eigene blinde Flecken zu erkennen und dazuzulernen, ohne sich angegriffen zu fühlen. Die Konstruktiven.

 

Manche Kommentare sind nicht auf den ersten Blick beleidigend oder diskriminierend. Wie entscheidest du bei Grenzfällen? Oder: Wie entscheidest du darüber, welche Kommentare grenzüberschreitend sind?

In manchen Kommentaren ist die Beleidigung sehr metaphorisch oder implizit. Zum Beispiel „Du hast wohl mit der Schaukel zu nah vor der Wand gestanden.“ Es gibt Beleidigungen, die ich als noch nicht grenzüberschreitend genug bewerte, „Torfkopf“ zum Beispiel oder „Vogel“. Es gibt auch ständig Diskussionen zwischen User*innen, die sich gegenseitig auf verschiedenste Weisen als „dumm“ bezeichnen, auch das finde ich nicht grenzüberschreitend genug. Was ab wann eine Grenze überschreitet und schon eine Beleidigung ist oder nicht, ist ein Stück weit subjektiv, das ist auch an den unterschiedlichen Gerichtsurteilen, zum Beispiel bei Renate Künast, zu sehen. Bei Grenzfällen schauen wir auch auf den Kontext, ob die Diskussion kaputtgemacht wird und sie andere abschreckt, sich zu beteiligen. Bei starken Unsicherheiten besprechen wir uns im Team und entscheiden gemeinsam.

 

Manche Kommentare treffen einen, auch wenn sie nicht an einen selbst gerichtet sind. Wie gehst du damit um, wenn dich verfasste Kommentare persönlich betreffen? Wie schützt du dich selbst? Gibt es eine Möglichkeit zur Supervision für dich und deine Kolleg*innen?  

Wenn mir in einem Beitrag Kommentare zu nahe gehen und ich merke, dass ich wütend oder traurig werde, kann ich immer entscheiden, das Ticket an Kolleg*innen abzugeben. Es hilft, gemeinsam über den Frust zu sprechen, den Kommentare bei uns auslösen und wir haben zum Glück eine hochkompetente Supervisorin, mit der wir über die Mechanismen und Hintergründe sprechen können.  Und wie immer mit Gefühlen: zulassen. Ist noch nicht oft gewesen, aber ich schätze, ich habe schon zwei bis dreimal geheult während der Arbeit oder der Supervision. Ich schütze mich vor allem, indem ich den Job nur Teilzeit mache und meine Freiberuflichkeit mit konstruktiven Tätigkeiten fülle, in denen ich handlungsfähiger bin. Ich suche mir also aktiv Austausch, inhaltlichen und körperlichen Ausgleich.

 

Welche Konsequenzen gibt es für Personen, die unangebrachte Kommentare schreiben im schlimmsten Fall? Bringt ihr auch Anzeigen ein?

Strafrechtlich relevante Kommentare leiten wir natürlich an die Zuständigen weiter, da kann auch Gefahr im Verzug sein. Um daraus folgende Anzeigen und notwendige Aktionen kümmern sie sich – je nach dem, um was es geht, folgen dann polizeiliche oder rechtliche Schritte. Bestenfalls kann da eine Gewalttat oder ein Suizid verhindert werden.

 

Ein Blick in die Zukunft: Denkst du, die Möglichkeit der ungebremsten Meinungsäußerung, selbst wenn diese voller Hass ist, wird zu Nachrichtenthemen dauerhaft bestehen bleiben?

Es gibt Nachrichtenformate, die ihre Kommentarsektionen geschlossen haben – verständlich ist das allemal. Denn sie aufzuräumen und zu einem sicheren Raum für alle zu machen, ist aufwendig, teuer und belastend. Ich finde es persönlich begrenzt sinnvoll, News zu kommentieren, sehe es aber auch gerade als Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Medien, das Netz als Diskursraum ernst zu nehmen.

Ich lese zu viele autoritäre Fantasien, um die Idee zu mögen, dass die Kommentarsektionen besser geschlossen werden. Sie müssen – wie jeder Ort, an dem viele Menschen kommunizieren möchten – gut moderiert werden. Diese Kapazitäten können und wollen sich nicht alle leisten. Hier wird insbesondere von den sozialen Netzwerken zu wenig Verantwortung übernommen. Ich muss bspw. keine Videos schauen. Die weit schlechter bezahlten Content-Moderator*innen des globalen Südens sind hier wie so oft die Leidtragenden, weil sie die schlimmste Arbeit für Meta und Co. übernehmen. Hier hoffe ich, dass sehr bald KI diese Arbeit übernehmen kann, weil diese Arbeit Menschen schnell zugrunde richtet. Ich fände es gut, wenn es im Netz weiter viele Diskussionsmöglichkeiten gibt. Ich sehe nur so die Möglichkeit, dass Gesellschaften lernen zu differenzieren zwischen freier Meinungsäußerung und Gewalt. Ich glaube, eigentlich haben fast alle Menschen ein ganz gutes Verständnis davon, was respekt- oder gewaltvoll ist und was nicht.

Über die Zukunft des Ganzen kann ich letztlich wenig sagen; was mit und wegen KI passiert, ist auch hier nicht absehbar. Wenn man sich vorstellt, dass die jetzt schon präsenten Sex-, Krypto- und Liebeszauber-Bots noch mehr werden und gar nicht mehr unterscheidbar ist, welche Kommentare von realen User*innen kommen und welche gefakt sind, wären offene Kommentarspalten tatsächlich für die Katz.

Dublin online und offline: „Unfollow Stella“ von Ellen Dunne.

 

Die irische Hauptstadt mit ihren Gassen, Pubs und dem idyllischen Straßenbild ist ein absoluter Sehnsuchtsort – und Patsys alte Heimat. Auch Stella Schatz war vor ihrem Verschwinden dabei, auf der Insel heimisch zu werden. Die Ermittlungen von Patsy und Sam allerdings ergeben, dass Stella kürzlich eine neue Arbeit angetreten hat – in einer Agentur für Content-Prüfung, dort, wo sich die dunkelsten Abgründe der virtuellen Welt auftun. Welche Folgen das für den Menschen hinter den Bildschirmen haben kann, wird von Kapitel zu Kapitel deutlicher. Hat Stella im Netz etwas gesehen, was niemand sehen durfte? Hat ihr Job sie auf unbekannte und gefährliche Wege geführt?

 

Mehr Infos zu dem Buch gibt es hier.

Der Beitrag „Manchmal sind wir die Müllabfuhr des Internets.“ Ein Interview mit der Content-Managerin Hannah Schlüter erschien zuerst auf Haymon Verlag.


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